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zwischen wiesen und wellen

Der Wales Coast Path

Immer wieder steht ein Gatter im Weg. Mal aus Holz gezimmert, schlicht mit einem Seil zugebunden, mal mit kompliziertem Schnapp-Mechanismus. Es kann auch eine quietschende Metallpforte sein, oder ein halbrunder Durchgang, vor dem man den Rucksack abnehmen und sich dünn machen muss, um an einer schwingenden Pendeltür vorbei zu kommen. Und das alles, damit die Schafe, Kühe und Pferde, deren Wiesen an der walisischen Küste in steile Klippen auslaufen, nicht ins Meer stürzen. Hinzu kommt der Wind. Der bläst eigentlich ständig, zerrt an der Jacke und bläht die Hosenbeine zu unverschämt dicken Stoffröhren auf.

Wer auf dem Wales Coast Path unterwegs ist, sollte die Elemente lieben. Die nach Salz und Tang riechende Luft, die draußen auf dem Atlantik schäumende Wellen formt und sie geräuschvoll gegen die Steilküste klatscht. Die in der Höhe gewaltige Wolkenberge auftürmt, aber auch morgendliche Dunstschleier in Fetzen reißt. Dann kommt sofort die wärmende Sonne ins Spiel, die das Meer kostbar glitzern lässt. In diesen modernen, wetterfesten Outdoor-Kokons, die den Wind nicht herein-, zu warmen Körperdunst aber herauslassen, ist das alles kein Problem. Im Gegenteil. Gut geschützt erfährt man mit jedem Meter am eigenen Leib, wenn auffrischende Böen die letzten Schadstoffe aus der Nase blasen und im Hirn Platz für klare Gedanken schaffen.

Wer will kann dem Wanderweg vom nördlichen River Dee bei Queensferry bis nach Chepstow im Süden folgen. Über 1400 Kilometer walisische Küste sind das, ein ziemlich langer Seiltanz zwischen tosender Natur rechts und stiller Kultur links, oder anders herum, wenn man in umgekehrter Richtung geht. Hoch über dem Meer schadet es nichts, neben wetterfester Kleidung, auch etwas Balancegefühl im Gepäck zu haben. An einigen Stellen kann es durchaus schmal werden. Und gefährlich, wenn dabei der Blick suchend hinaus über das Wasser geht, etwa um Delfine oder Robben zu entdecken. Da sind die von Landseite herüberblickenden, meist gelangweilt kauenden Vierbeiner leichter auszumachen. Aber keine Angst. Selbst mit roter Wanderjacke bleiben die Jungstiere und Schafböcke auf den weitläufigen Wiesen in sicherer Entfernung.

In der Nacht hat es geregnet und der Himmel ist noch Wolken verhangen, als es für den Tagesabschnitt morgens in Nant Gwytheren losgeht. Die renovierten Häuser des National Welsh Language liegen tief unten in einer Bucht, nicht weit von Llithfaen. Wo bis heute die walisische Sprache lebendig gehalten wird, starb vor fast einem Jahrhundert ein wichtiger lokaler Handwerkszweig. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts schlugen hartgesottene Männer, „breakers“ und „blockers“ genannt, aus den steil aufragenden Felswänden Steine, mit denen die Straßen der rasch wachsenden Industriestädte Großbritanniens gepflastert wurden. Der Ort samt Einkaufsladen, Bäckerei und Kapelle zählte damals 200 Menschen. Doch mit der Erfindung des Asphalts sank der Bedarf an Steinen, die Arbeit wurde eingestellt und die grauen, mit walisischem Schiefer gedeckten Häuser verfielen. 1959 verließ der letzte Bewohner die Bucht.

Vor wenigen Jahren wurde alles für mehrere Millionen Pfund renoviert und zu einer modernen Tagungsstätte umgebaut. „Nant war immer eine ‚heilige Kuh’ der walisischen Nationalisten“, erzählt der Historiker Peter Hewlett. „Auch wenn es abseits liegt und der Markt für die angebotenen Walisischkurse relativ klein ist, steht Nant für den Traum, dass sich Walisisch wieder über die ganze Region ausbreitet und doch noch eine Nationalsprache wird. Das Zentrum zu schließen, hieße auch, diesen Traum zu begraben.“

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Überlebt haben neben derartigen Träumen auch die wilden Ziegen, die einst von irischen Steinbrucharbeitern mitgebracht wurden und die aus den Farnen am Steilhang auftauchen. Auf dem Weg hinab zum Strand ragt aus dem kniehohen Grün bald auch ein Pfosten mit dem runden, blaugelben Hinweisschild: Wales Coast Path, Llwybr Arfordir Cymru. Wir sind richtig. Langsam klart der Himmel auf und das graue Meer wechselt ins Blaue. Um den Hals hängt ein GPS-Gerät, das die Richtung anzeigt und jeden Meter bis zur nächsten Wegmarkierung rückwärts zählt. Peters Firma, Edge of Wales Walk, bietet diesen High-Tech-Service an. Dazu gibt es eine Karte und ein ausgedrucktes Manuskript mit vielen, von Peter selbst zusammengestellte Hintergrundinformationen über markante Küstenpunkte und verschlafene Dörfer im Hinterland. Auch das Gepäck wird von ihm in dieser dünn besiedelten Region bis zur nächsten Unterkunft transportiert. „Hier ist beim Wandern vorab viel zu organisieren, auch mit den Quartieren“, räumt er ein.

Durch nun hüfthohe Farne verläuft der Weg am Berghang auf- und abwärts und schlängelt sich bald durch einen kleinen Eichenwald. Wind und Regen haben die niedrigen, mit Moos überzogenen Bäume zu windschiefen Skulpturen verformt. Zwischen Bingelkraut, Wundsanikel und saftigem Gras plätschern dünne Rinnsale zu einem menschenleeren Strand hinab. Doch auch das Meer gibt sich so früh am Morgen noch unbewohnt. Delphine lassen sich nicht blicken.

Halt in Pistyll. Nicht weit vom Wasser entfernt steht eine kleine Kirche. Auf dem Friedhof am Hang erzählen verwitterte Grabsteine ihre Geschichten: Dass der berühmte britische Maigret-Darsteller Rupert Davis hier liegt, nicht weit entfernt von der ganz unbekannten Jane Roberts, die mit nur 28 Jahren am 25 April 1868 starb. Vielleicht wurde auch sie schon über jenem trockenen Heu aufgebahrt, dass bis heute mitsamt heimischer Kräuter auf dem Steinfußboden des kleinen Kirchenschiffs verteilt wird und den Raum mit würzigem Duft erfüllt.

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"Clodforwch yr Arglwydd canys da yw", steht über dem Altarfenster. So ganz ohne fremde Hilfe klärt erst die Recherche per Smartphone darüber auf, was der Buchstabensalat bedeutet: "Lobe den Herrn, denn er ist gut". „Im Mittelalter war dies auch ein Hospital, vor allem für Leprakranke“, fügt Peter hinzu. „Derartige Pflanzen dienten der Heilung, auch bei den vielen mittelalterlichen Pilgern, die hinunter nach Bardsey Island wollten.“

Draußen vor der Tür weist er in die Richtung, die eigentlich immer gleich ist: Einfach an der Küste entlanglaufen, dann würden wir sie irgendwann sehen, die Insel der zwanzigtausend Heiligen an der Südspitze von Gwynedd County. Wer dort oder schon auf dem Weg dorthin starb, würde frei von allen Sünden direkt in den Himmel kommen, habe das mittelalterliche Versprechen geheißen. Dreimal nach Bardsey pilgern sei so viel wert gewesen wie einmal nach Rom. Bei 1000 Jahren Pilgertum wäre das etwa ein Toter alle 19 Tage, rechnet Peter nach. „Ein richtiger Sterbetourismus war das damals.“ Erst Heinrich VIII. hätte dem Treiben 1537 ein Ende bereitet und die Gebäude auf der Insel kurzerhand abreißen lassen. Aber noch heute würde man dort beim Umgraben Knochen finden und Handyempfang gäbe es nur oben auf der Bergspitze.

Über der Kirche in Nefyn dreht sich ein Segelschiff als Wetterfahne. In diesem ehemals verfallenen Gotteshaus entsteht ein maritimes Museum, das an den einst von Seefahrt und Fischerei geprägten Alltag der Region erinnert. Der Schiffbau bot vielen Handwerkern reichlich Arbeit und fast wäre in Dinllaen der Hauptfährhafen nach Dublin gebaut worden, bevor sich das Parlament dann doch für Holyhead entschied.

Bis ins Jahr 1823 reichen auch die Ursprünge des mit Kuriositäten vollgestopften Tŷ Coch Inn zurück, das direkt am kleinen Strand des verschlafenen Nests liegt. Drinnen scheint sich bis auf die moderne Zapfanlage für lokale Biersorten nicht viel verändert zu haben. Mit einem Pint in der einen, einem gebackenen Panini-Sandwich in der anderen Hand und beiden Füßen im Wasser lässt sich in dieser Bucht wieder etwas Kraft tanken. Dazu klatschen die Wellen an der Hafenmauer einen sehr entspannenden Rhythmus.

Einige Meter hinter dem Pub erinnert die Lifeboat Station daran, dass diese Gewässer nicht ganz ungefährlich waren. Zwischen 1844 und 1858 gerieten vor Porth Dinllaen 87 Schiffe in Seenot, 350 Leben konnten bislang gerettet werden. Doch das hektische Treiben draußen im Meer hat sich beruhigt, der Heringsfang wurde eingestellt und wenn, dann werden heute nur noch Wellhorn-Meeresschnecken gefischt und als Delikatesse nach Südkorea exportiert.

Um auch an Land auf der sicheren Seite zu bleiben, empfiehlt es sich, den anschließenden Golfplatz möglichst dicht an der Steilküste zu umwandern. So geht man herumirrenden Bällen am besten aus dem Weg. Die Wörter „Golf“ und „Course“ gäbe es beide im Walisischen nicht, klärt Peter unterwegs auf. Für Hinweisschilder wurde deshalb entsprechend der walisischen Schreib- und Sprachregeln die Bezeichnung „Cwrs Golff“ geschaffen.

Bald sind die Schläger schwingenden Zweibeiner auf dem sattgrünen Rasen wieder durch friedlich grasende Vierbeiner abgelöst. Statt Golfbällen gehört die Aufmerksamkeit nun wieder ganz der salzigen Luft, dem Rauschen der Brandung, der sich weit voraus abzeichnenden Küstenlinie, auf der vereinzelte Häuser stehen. Aus den Wellen ragen jetzt große Felsbrocken, eigentlich ideale Sonnenbänke für Robben. Doch die wollen heute einfach nicht. 

Bis hinunter nach Towyn soll es noch gehen. Dem Weg oben auf der Steilküste ist hier leicht zu folgen. Überhaupt lassen sich die Tagesziele auf dem Wales Coast Path oft schon vom Weitem erspähen, jene kleinen Dörfer, wo in einem Pub das voraus transportierte Gepäck wartet. In den Senken, in denen der allgegenwärtige Wind ausgeschlossen ist und nur die Sonne wärmt, wirkt die Landschaft unerwartet friedlich. Kaum vorzustellen, dass die armen Küstenbewohner einst versuchten, vorbei fahrende Schiffe mit Lampensignalen auf die Klippen zu locken, um sie dann auszuplündern.

Heute versorgt sich dieser schwach besiedelte Landstrich vollkommen legal mit allem Lebensnotwendigen. Und für diesen Luxus geht es dann in Porth Towyn landeinwärts zum Lion Hotel in Tudweiliog. In Towyn selbst ist die einzige Stelle, wo der Weg an diesem Tag nicht eindeutig ausgeschildert ist. Er führt quer über den Hof der Towyn Farm, wo ein Pfau wie zur Begrüßung ein farbenprächtiges Rad schlägt. Allerdings lässt sich dieses Privatgrundstück nicht recht mit einem Wanderweg verbinden. Über Privatgelände zu gehen, sei in Wales zunächst einmal kein krimineller Akt, meint Peter lapidar. Er wolle aber den Hinweis für eine bessere Beschilderung an dieser Stelle weitergeben. Und dann ist wieder eine Wiese zu überqueren und für diesen Tag ein letztes Gatter zu öffnen. Die Sonne hat sich längst hinterm Horizont verkrochen. Auf der stillen Hauptsraße in Tudweiliog sind das Post Office und der Tante-Emma-Laden geschlossen. Jetzt geht es nur noch den erleuchteten Fenstern des Lion Hotel entgegen, wo eine Dusche, ein warmes Essen und ein weiches Bett warten.


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